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Aktuelles Hochschule Deggendorf 

Frontalzusammenstoß zweier Züge in Bad Aibling

Zugunglück in Bad Aibling

Zugunglück Bad Aibling: Ist der Mensch durch die gewachsene Komplexität an seinen Grenzen angelangt?

„(…) ein furchtbares Einzelversagen, (…) eine fahrlässige Tat, nicht eine vorsätzliche (…)" liegt laut Leitendem Oberstaatsanwalt Wolfgang Giese beim Zugunglück in Bad Aibling mit elf Todesopfern und achtzig Verletzten vor. Es wurde bereits ein Ermittlungsverfahren, unter anderem wegen fahrlässiger Tötung und Körperverletzung, eingeleitet.

Am 09.02.2016 stießen in der Nähe von Bad Aibling im Kreis Rosenheim auf einer eingleisigen Strecke zwei Züge frontal aufeinander. Einer der beiden Züge entgleiste, mehrere Waggons stürzten um. Der von Bad Aibling Richtung Kolbermoor fahrende, um ca. 4 Minuten verspätete Zug hatte von dem zuständigen Fahrdienstleiter ein Sondersignal zur Weiterfahrt erhalten, wodurch er auf der eingleisigen Strecke frontal mit einem pünktlich verkehrenden Regionalzug zusammenstieß.1

„Hätte er (der Fahrdienstleiter, Anm. des Verfassers) sich regelgemäß, also pflichtgerecht, verhalten, wäre es nicht zum Zusammenstoß gekommen"2, so der Leitende Oberstaatsanwalt Wolfgang Giese.

Die Sicherstellung regel- oder pflichtgemäßen Verhaltens ist der Dreh- und Angelpunkt des nicht erst seit Siemens- und VW-Skandal ständig populärer werdenden Begriffes „Compliancemanagement".

Es stellt sich die Frage, wie lange der Mensch bei immer komplexer werdenden Anforderungen aus Recht, Technik, BWL, Managementlehre, Psychologie und Soziologie, diesen noch gerecht werden und die - auch strafrechtlich bewehrte - Verantwortung für „pflichtgemäßes" Verhalten tragen kann?

Das furchtbare Unglück in Bad Aibling erinnert an das Transrapid-Unglück:

Transrapid-Unglück3 

„Weil die Strecke für den vollbesetzten Personentestzug freigegeben wurde, obwohl noch ein Arbeitszug auf den Schienen war, kam es zum schrecklichen Unfall: Die Staatsanwaltschaft erhob Anklage wegen fahrlässiger Tötung in 23 Fällen gegen zwei Fahrdienstleiter und zwei Betriebsleiter. Der Vorwurf: Organisationsverschulden. Es hätten Verfahrensanweisungen gefehlt, die einen sicheren Prozessablauf gewährleistet hätten. Ein Mausklick hätte genügt, um die Fahrwegsperre zu aktivieren. In allen Fällen wurden Verurteilungen ausgesprochen, bei den Fahrdienstleitern Freiheitsstrafen zur Bewährung. Dies stellt keinen „Freispruch 2. Klasse" dar, da bei strafrechtlicher Verurteilung die zivilrechtliche Schadensersatzhaftung für den gesamten Schaden „feststeht". Auch die psychische Belastung des (Selbst-)Vorwurfes und Prozesses ist gravierend: Beide Fahrdienstleiter galten als höchst suizidgefährdet, einer von ihnen versuchte, sich das Leben zu nehmen.4

Unternehmen sind verpflichtet, sich so zu organisieren (z.B. durch dokumentierte, rechtssichere Prozessabläufe/Verfahrensanweisungen, Organigramme, Stellen- oder Arbeitsplatzbeschreibungen etc.), dass mögliche Schadensfälle systematisch vermieden werden können. Dies gilt nicht nur im sicherheitsrelevanten Bereich.

Sofern die Geschäftsleitung das Unternehmen (rechts-)sicher organisiert, z.B. mit Hilfe von (rechts-)sicheren Verfahrensanweisungen, kann es trotzdem immer noch vorkommen, dass sich einzelne Mitarbeiter - aus welchen Gründen auch immer - im Einzelfall nicht daran halten und dadurch Schäden verursachen. Diese sind dann selbstverständlich unter Umständen auch persönlich in der Verantwortung. Dem Unternehmensleiter ist dann jedoch kein Vorwurf mehr zu machen.

Die Unternehmensorganisation mit Hilfe von Checklisten und Verfahrensanweisungen, etc. kennen viele Praktiker bereits aus dem Qualitäts- und Prozessmanagement bzw. aus der Organisationslehre. Völlig neu zu sein scheint, auch die vielfältigen rechtlichen Anforderungen und Risiken zu berücksichtigen und die Verfahrensanweisungen, Checklisten, Prozesse so auszugestalten, dass die Erfüllung auch dieser rechtlichen Pflichten und die Berücksichtigung von Risiken angemessen gewährleistet ist. Genau dies jedoch ist „Governance, Risk und Compliance („GRC")" und zugleich die große und neue Herausforderung an Unternehmensjuristen: Die Verknüpfung von Recht, Technik und Betriebswirtschaft, um eine (rechts-) sichere Unternehmensorganisation zu erreichen!5

In den Fällen Zugunglück Bad Aibling oder Transrapid geht es sicher nicht um kriminelles Verhalten. Entsprechendes Fehlverhalten ist auch künftig beileibe nicht mit Verhängung oder Androhung strafrechtlicher Sanktionen mit dem Ziel der General- und Spezialprävention zu verhindern.

Moderne Methoden von Governance, Risiko- und Compliancemanagement können da wesentlich effektiver sein und Lösungen anbieten, damit der technische Fortschritt den Menschen nicht überfordert.

Auch Renn6, ein renommierter Risikoforscher, stellt die Frage, ob der Mensch hier versagt hat oder die Technik, Stress oder organisatorische Probleme den Menschen überfordern: „Erst wenn wir beständig die Schnittstellen zwischen Technik, Mensch und Organisation systematisch beobachten und kontinuierlich verbessern, werden wir es schaffen, die Erfolgsgeschichte der technischen Sicherheit (…) erfolgreich fortsetzen zu können."

Meines Erachtens kann nur ein interdisziplinärer Blick helfen, greifende Lösungen für die Zukunft zu erarbeiten:

Zum Beispiel der Blick auf die Disziplinen Psychologie, Neurologie, Soziologie, etc.: Spätestens seit Wirtschaftsnobelpreisträger Kahnemann und Tversky („Schnelles Denken - Langsames Denken") wissen wir, dass der Denk- und Entscheidungsapparat des Menschen erheblichen Verzerrungen unterliegt.7

Auch bei Risikowahrnehmung und -bewertung stößt der Mensch im kognitiven Bereich („Wissen") längst an seine Grenzen.

Um im Alltag stets vernünftig, das heißt regelkonform, zu entscheiden und zu handeln, müsste er aber auch noch auf der emotionalen Ebene („Wollen") seiner „Einstellung" in die richtige Richtung „gestupst" werden.8

Und: Wissen und Wollen alleine reicht nicht, erst das entsprechende Können führt bei Risiken zu einem entsprechenden risikobasierten Handeln und Steuern.

Ein Ansatz könnte im Hinblick auf „emerging risks" bei wachsender Komplexität und innovativer Technologie sein, mit Methoden der Risikoerkennung, -bewertung und -steuerung, zumindest nach „Anerkanntem Stand von Wissenschaft und Praxis" zu arbeiten:

Unter Umständen würde so bereits im Vorfeld bei Konstellationen, wie in Bad Aibling, in Leuthen beim Transrapid-Unglück oder bei künftigen erheblichen Risikolagen, transparent, wie Mensch und Technik besser zusammenspielen können und welche verheerende Auswirkungen kleinste menschliche Fehler („Das hätte jedem - also auch mir - passieren können") zur Folge haben können.

In den seltensten Fällen stellen solche Unglücke völlig unvorhersehbare Ereignisse - bei Risikomanagern „Schwarze Schwäne" genannt - dar.

Bei entsprechender Analyse sind meist auch angemessene Risikosteuerungsmaßnahmen zu finden.

Ob damit auch das Unglück in Bad Aibling durch Prophylaxe im Bereich Technik, Organisation und Mensch vermeidbar gewesen wäre und wer letztendlich dafür die Verantwortung zu tragen hat, ist eine noch offene Frage. Diese Frage adressiert an die Unternehmensleitung und etwaige Aufsichtsfunktionen, nicht jedoch an einen Fahrdienstleiter als „schwächstes Glied der Kette".

Eine systematische Vorgehensweise mit innovativen Methoden in diesem noch sehr jungen Wissenschaftsfeld von Governance, Risk und Compliance (GRC) bietet noch viele angemessene Lösungen und Antworten, mit denen der Mensch trotz seiner immer deutlicher werdenden Limitierungen die Gefahren und Herausforderungen künftiger Komplexität und anspruchsvoller Technologie erfolgreich managen kann.10

Und: Vollkommene Sicherheit wird es nur selten geben.

Prof. Dr. jur. Josef Scherer
Rechtsanwalt
Professor für Unternehmensrecht (Compliance),
Risiko- und Krisenmanagement,
Leiter des Internationalen Institutes für
Governance, Management, Risk und Compliance
der Technischen Hochschule Deggendorf
www.gomaricom.de
Richter am Landgericht a. D.

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[1] http://www.sueddeutsche.de/bayern/zugunglueck-was-wir-ueber-den-unfallhergang-bei-bad-aibling-wissen-1.2865795.
[2] Passauer Neue Presse vom 17.02.2016, Seite 1; http://www.pnn.de/titelseite/1050816/.

[3] Vgl. http://www.noz.de/deutschland-welt/vermischtes/artikel/158124/urteil-im-transrapid-prozess-zum-ungluck-in-lathen-zwei-fahrdienstleiter-zu-bewahrungsstrafen-verurteilt#gallery&0&0&158124.
[4] „Der Anwalt des ersten Fahrdienstleiters ergänzte, sein Mandant habe sich nach dem Unglück im September
2006 das Leben nehmen wollen. Er sei auch heute noch in regelmäßiger psychologischer Behandlung.“
http://www.noz.de/deutschland-welt/vermischtes/artikel/158124/urteil-im-transrapid-prozess-zum-ungluck-in-lathen-zwei-fahrdienstleiter-zu-bewahrungsstrafen-verurteilt#gallery&0&0&158124.  Vgl. auch Kutzim, Schattauer, Vinocur, „Aus der Bahn geworfen“, Focus 8, 2016, S. 36: Reportage über die Verarbeitung von verursachtem Zugunglück.
[5]  Scherer/Fruth, Geschäftsführer-Compliance, Praxiswissen zu Pflichten, Haftungsrisiken und Vermeidungsstrategien, 2009, Rn. 10.

[6] Renn, „Wer ist Schuld?“, Focus 7, 2016, Seite 46.
[7] Vgl. auch Scherer, Die Psychologie des Managements, in Scherer/Fruth (Hrsg.), Governance-Management Band I, 2014, Kapitel 1.4.
[8] Vgl. Richard Thaler „Nudges“: paternalistischer Liberalismus.

[9] Vgl. die neue ISO 9001:2015 zum Qualitätsmanagement.
[10] Vgl. auch Scherer/Fruth (Hrsg.), Governancemanagement Band 2 (Standard und Audit), 2015 und Scherer/Fruth, Technik-Governance, Sonderveröffentlichung des Berufsverbandes der Compliance Manager, 2015 (zum kostenlosen download auf http://www.scherer-rieger.de/images/Veroeffentlichungen/BCM-Buchbeitrag/BCMTechnikGovernance.pdf.